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Call for Papers

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das oftmals als Jahrhundert der „Lesewut“ und „Lesesucht“ bezeichnet wurde, gab es bekanntlich noch keine spezifische Kinder- und Jugendliteratur, jedoch entwickelte sich allmählich ein solches Literatursegment für das junge Publikum. Wenngleich zahlreiche pädagogische Texte zur Erziehung und Bildung der Kinder in dieser Zeit erschienen, hat die literarische Sozialisierung der Kinder und Jugendlichen also vermutlich auch außerhalb dieser inzwischen kanonisierten Werke stattgefunden. 

Parallel zur Entstehung der Literatur für Kinder und Jugendliche erlebte die moralische Erzählung einen beispiellosen Erfolg in Europa und insbesondere in Frankreich und Deutschland. Diese Texte, die sich nicht auf ihre moralische Funktion reduzieren lassen, sprechen oftmals das Empfindungsvermögen des Lesers bzw. der Leserin an, um ein moralisches und soziales Bewusstsein zu wecken. Zwischen dem späten 17. Jahrhundert und dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich die Bedeutung des französischen Begriffs „morale“ nämlich grundlegend verändert: Während der Begriff im Dictionnaire de l’Académie von 1694 die Lehre der „natürlichen oder erworbenen Gewohnheiten für das Gute oder für das Schlechte“ bezeichnet, definieren ihn die französischen Enzyklopädisten als „Wissenschaft von den Sitten“, die selbst „vom Klima, von der Religion, von den Gesetzen, der Regierung, den Bedürfnissen, der Erziehung, den Manieren und den Beispielen abhängt.“ In diesem Zusammenhang spielt auch die Fiktion eine besondere Rolle: Sie dient nicht nur dazu, existierende Sitten und Verhaltensweisen darzustellen, sondern soll die Leserinnen und Leser auch mit moralischen Dilemmata konfrontieren, um sie anzuregen, eigenständig Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten zu entwickeln.

Mit der Zeit ist also eine Verschiebung vom klassischen, der Vermittlung von Tugenden dienenden Lehrbuch zu Erzählungen mit kindlichen Hauptfiguren sowie zu moralischen Erzählungen zu beobachten. Bestimmte literarische Formen, die zunächst für Erwachsene bestimmt waren, werden auf junge Leserinnen und Leser zugeschnitten. In Frankreich und in den deutschsprachigen Gebieten findet man zahlreiche Werke unterschiedlichen Umfangs, die sich eindeutig auch an Kinder richten, wie etwa Christian Felix Weißes Der Kinderfreund, Joachim Heinrich Campes Kleine Kinderbibliothek, Arnaud Berquins L’ami des enfants oder Marie Leprince de Beaumonts Le Magasin des enfants. Es geht in diesen Werken darum, durch die Lektüre zu bilden und zu unterhalten, um die Leserinnen und Leser zu besseren Menschen zu erziehen. Da diese Werke nicht zwangsläufig in einem schulischen Kontext verwendet wurden, mussten potenzielle Käufer (Eltern, Lehrer und Ausbilder, Leiter(innen) von Erziehungsinstituten und Pensionaten) gewonnen werden; besonders wichtig ist hier die Rolle der Buchhändler und Verleger, die neue Autoren auf den Markt bringen, Texte verbreiten, Übersetzungen herausgeben.

Insofern verwundert es kaum, dass in den fiktionalen Moralerzählungen dieser Zeit Fragen der Erziehung (insbesondere der Mädchenerziehung) in Deutschland und Frankreich zentral sind, wie dies etwa die moralischen Erzählungen Marmontels (z.B. La Leçon de l’amitié, L’École des pères, La Bonne Mère), Campes, Weißes und Berquins Texte, aber auch Werke der Autorinnen Madeleine de Puisieux (Le Père mentor) oder Sophie von La Roche (Moralische Erzählungen) und, nach der Französischen Revolution, Marie-Jeanne Riccoboni und Félicité de Genlis belegen. Texte dieser literarischen Gattung findet man auch häufig in Miszellaneen für die deutsche Jugend, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum verbreiten. Zahlreiche Texte Marmontels wurden in Weißes Kinderfreund übersetzt und haben etwa die Erzählungen Sophie von La Roches beeinflusst, um nur ein paar Beispiele zu nennen. In diesem Zusammenhang wird auch die Unterscheidung zwischen einer Literatur für Erwachsene und einer Kinderliteratur fragwürdig, scheinen die Werke doch insgesamt eher darauf ausgerichtet, den Kindern und insgesamt der Bevölkerung eine gute Erziehung zu vermitteln. Hiermit entsprechen sie vollkommen der aufklärerischen Idee des Fortschritts.

Die Tagung geht von der folgenden Annahme aus: Die Zirkulation und Verbreitung, die Übersetzungen und Neubearbeitungen dieser Erzählungen zeigen, dass die Debatten um neue Konzepte von Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht national begrenzt blieben, sondern im europäischen Austausch stattfanden. Neben den bekannten Autoren und Werken wären weniger bekanntere Beispiele von Interesse, denn erst ein breiteres Korpus könnte es erlauben, ein besseres Verständnis dieser Zirkulation zu ermöglichen. Welche Vorstellungen von Erziehung kommen in diesen Werken zum Ausdruck? Inwiefern hat die Fiktion auch zu einem Mentalitätswandel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa beigetragen? Im Rahmen der Tagung soll der Versuch unternommen werden, u.a. folgende Fragen zu beantworten:

  • Fragen zum Kulturtransfer: Wie wurden die Texte im europäischen, vor allem zwischen dem deutschsprachigen und dem französischsprachigen Raum verbreitet? Wer spielte in diesem Zusammenhang eine Vermittlerrolle? Welche Verleger und anderen Vermittler haben zur Verbreitung der Texte beigetragen und mit welchen Absichten?
  • Poetische, gattungsspezifische und übersetzungswissenschaftliche Fragen: Welches sind die besonderen Merkmale dieser moralischen Erzählungen? Lassen sich in den jeweiligen Gattungen ähnliche Muster nachweisen? Wie und von wem wurden die Texte übersetzt?
  • Ideologische Fragen: Welche Ideen von Erziehung und Bildung werden in diesen Texten formuliert und inwiefern tragen die Texte zur Bildung junger Bürgerinnen und Bürger bei? Gibt es raumspezifische Eigenheiten?
  • Genderfragen: Inwiefern werden Unterschiede in der Erziehung und Bildung junger Frauen und Männer in den Texten artikuliert?